Gehörlosenschule

Gehörlosenschule – Wo die Gebärdensprache aufblüht

In Gehörlosenschulen werden Kinder mit dem “Schwerpunkt Hören” unterrichtet und gefördert. Diese spezialisierten Bildungseinrichtungen bieten ein angepasstes Lernumfeld für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Graden von Hörbehinderungen, von leicht schwerhörig bis taub. Im Rahmen aktueller Inklusionsbestrebungen ist die Anzahl reiner Gehörlosenschulen allerdings rückläufig, während gleichzeitig neue pädagogische Konzepte entstehen, die auf die Bedürfnisse hörbehinderter Lernender eingehen.

Was ist eine Gehörlosenschule?

Eine Gehörlosenschule ist eine spezialisierte Förderschule, in der gehörlose und schwerhörige Kinder und Jugendliche unterrichtet werden. In Deutschland werden diese Einrichtungen häufig als Landesbildungszentrum für “Hörgeschädigte” (LBZH) bezeichnet. Diese Bezeichnung wird beispielsweise für einen Schulverbund in Niedersachsen sowie für die staatlichen Schulen in Sachsen-Anhalt verwendet, da sie in direkter Trägerschaft des jeweiligen Bundeslandes stehen und überregional tätig sind. Im Rahmen der Gehörlosenschule werden sowohl vorschulische, schulische, außerschulische als auch teilweise berufsschulische Angebote für Kinder und Jugendliche mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Hören angeboten. Dabei stehen die spezifischen Lernbedürfnisse und kommunikativen Anforderungen der hörbehinderten Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt des pädagogischen Konzepts.

Die Geschichte der Gehörlosenschulen in Deutschland und Europa

Gehörlose Menschen lebten bis zum Renaissance-Humanismus im 16. Jahrhundert überwiegend einzeln und regional verstreut. Zu dieser Zeit wurden die Vorurteile einiger bekannter europäischer Gelehrter aus Altertum und Mittelalter, dass Gehörlose wegen ihrer Stummheit und Taubheit bildungsunfähig seien, endlich widerlegt. Einige adlige Gehörlose erhielten dann ersten Unterricht von Mönchen, die ihnen neben dem christlichen Glauben auch die Lautsprache vermittelten, damit sie als würdige sprechende Erben gelten konnten.

Die erste Gehörlosenschule der Welt entstand 1760 in Paris unter Charles Michel de l’Epée. Er entwickelte die „Langue des signes française“ (LSF) aus der bereits existierenden Gebärdensprache und kombinierte sie mit der Grammatik der französischen Sprache unter dem Begriff „methodische Zeichen“. Diese LSF wurde zu einer wichtigen Grundlage und beeinflusste viele andere Gebärdensprachen weltweit.

In Deutschland hat die Samuel-Heinicke-Schule in Leipzig einen besonderen historischen Stellenwert. Sie wurde 1778 von Samuel Heinicke gegründet und ist die älteste staatliche Gehörlosenschule der Welt, die durchgehend an verschiedenen Standorten in Leipzig betrieben wurde. Die Schule trägt heute den offiziellen Namen „Sächsische Landesschule mit dem Förderschwerpunkt Hören, Förderzentrum Samuel Heinicke“ und umfasst die Schulteile Grundschulstufe mit Verlängerung der Grundschulzeit um ein Jahr, Mittelschulstufe und Bildungsgang zur Lernförderung. Die Einrichtung bietet verschiedene Abschlussmöglichkeiten vom Hauptschulabschluss bis zum Realschulabschluss an.

Pädagogische Konzepte moderner Gehörlosenschulen

In heutigen Gehörlosenschulen kommen unterschiedliche pädagogische Ansätze zum Einsatz. Besonders hervorzuheben ist das Konzept des bimodal-bilingualen Unterrichts, bei dem sowohl die Gebärdensprache als auch die Lautsprache verwendet werden. Dieses Konzept basiert darauf, dass die Gebärdensprache die natürliche Sprache des gehörlosen Kindes ist – eine Sprache, die es in der Regel ohne Einschränkungen wahrnehmen und erwerben kann.

Wenn du dir dieses Konzept genauer anschaust, wirst du feststellen, dass es davon ausgeht, dass Kinder mindestens eine Sprache benötigen, die altersangemessen entwickelt ist, um sich kognitiv und sozial-emotional entwickeln und in der Schule lernen zu können. Trotz guter hörtechnischer Versorgung ist nicht vorhersehbar, ob ein hörbehindertes Kind besser eine Lautsprache oder eine Gebärdensprache lernt. Werden beide Sprachen angeboten, hat das Kind die Chance, mindestens eine der beiden Sprachen altersangemessen zu erwerben.

In der praktischen Umsetzung des bimodal-bilingualen Unterrichts arbeitet typischerweise eine hörende Lehrkraft (als Repräsentation der Lautsprache) und eine gehörlose Lehrkraft (als Repräsentation der Gebärdensprache) im Team zusammen. Dabei gilt das Prinzip „eine Person = eine Sprache“.

Die Rolle der Gebärdensprache in Gehörlosenschulen

Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) spielt eine zentrale Rolle in Gehörlosenschulen. Sie ist eine eigenständige visuell-manuelle Sprache, mit der vor allem gehörlose und schwerhörige Personen in Deutschland, Belgien und Luxemburg untereinander und mit Hörenden kommunizieren. Die DGS wird von etwa 200.000 Menschen dauerhaft oder gelegentlich verwendet und unterscheidet sich in ihrer Grammatik grundlegend von der deutschen Lautsprache.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die DGS nicht einfach „gebärdetes Deutsch“ ist, sondern eine eigenständige Sprache mit eigener Struktur und Regeln. Neben der reinen DGS gibt es auch weitere Kommunikationssysteme wie Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG), Lautsprachunterstützende Gebärden (LUG), Visual Vernacular (VV) und andere.

Im schulischen Kontext werden unterschiedliche Ansätze verfolgt, wie das Verhältnis zwischen Gebärdensprache und Lautsprache gestaltet wird. Während manche Schulen auf einen gleichberechtigten Einsatz beider Sprachen (bilingualer Ansatz) setzen, betonen andere die Lautsprache stärker und nutzen die Gebärdensprache als Unterstützung.

Das Erfurter Modell – Ein innovatives Konzept für Gehörlosenschulen

Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für moderne Bildungskonzepte ist das Erfurter Inklusionsmodell. Es handelt sich um ein einmaliges Inklusionsprojekt, bei dem nicht ein einzelner Schüler, sondern eine ganze Gruppe von gehörlosen Kindern mit hörenden Kindern an einer Regelschule lernt. Der Unterricht findet bilingual in Deutsch und Gebärdensprache statt.

Die Gemeinschaftsschule „Am Roten Berg“ in Erfurt ist die einzige Schule, die diesen Weg gegangen ist und gilt für viele Eltern hörbehinderter Kinder als erste Wahl, wenn es um Inklusion geht. Es gibt sogar Familien, die extra nach Erfurt gezogen sind, damit ihre Kinder dort zur Schule gehen können.

An der Schule lernen 16 hörbehinderte Kinder und 26 hörende Kinder gemeinsam. Sie verteilen sich auf zwei Räume – in einem lernen die Klassen 1 und 2 zusammen, im anderen die Klassen 3 und 4. So können die Kinder Kontakt halten und die Lehrer flexibel zwischen den Räumen wechseln. Eine gehörlose Lehrerin arbeitet gemeinsam mit einer hörenden Kollegin, wobei erstere für die Gebärdensprache und letztere für die Lautsprache zuständig ist. Beide Kommunikationsformen werden parallel für alle Lernenden angeboten, unabhängig davon, ob sie gehörlos, hörend, mit Cochlea-Implantat versorgt oder schwerhörig sind.

Der Wandel der Gehörlosenschulen im Zuge der Inklusion

Im Rahmen der Inklusionsbewegung gibt es immer weniger reine Gehörlosenschulen oder Schulteile ausschließlich mit Klassen für Gehörlose. Stattdessen werden zunehmend inklusive Modelle entwickelt, bei denen hörbehinderte Kinder gemeinsam mit hörenden Kindern unterrichtet werden.

Diese Entwicklung bietet sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Einerseits fördert sie die gesellschaftliche Integration hörbehinderter Menschen von klein auf, andererseits müssen die spezifischen Bedürfnisse dieser Schülergruppe auch im inklusiven Setting gewährleistet werden. Dies erfordert speziell geschultes Personal, technische Ausstattung und angepasste pädagogische Konzepte.

Trotz des Trends zur Inklusion haben spezialisierte Bildungseinrichtungen für Hörbehinderte weiterhin ihre Berechtigung, da sie ein auf die spezifischen Bedürfnisse zugeschnittenes Lernumfeld bieten können, das in einer inklusiven Regelschule nicht immer in gleicher Weise gewährleistet werden kann.

Technische Hilfsmittel und digitale Medien in modernen Gehörlosenschulen

In heutigen Gehörlosenschulen spielen technische Hilfsmittel und digitale Medien eine entscheidende Rolle. Informations- und Kommunikationstechnologien tragen wesentlich zum Abbau von Barrieren bei und sind oft eine grundlegende Voraussetzung für die aktive Teilnahme am Lernprozess.

Die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, ihren Erfahrungsraum zu erweitern und verbessert den persönlichen Zugang zu Kommunikation und Information. Dadurch wird ihre Integration in die Welt der Hörenden erleichtert und die Chance für eine künftige gesellschaftliche und berufliche Teilhabe sowie für ein Höchstmaß an selbständiger Lebensführung beträchtlich erhöht.

Zu den technischen Hilfsmitteln gehören unter anderem Hörhilfen wie Hörgeräte und Cochlea-Implantate, aber auch spezielle Software und digitale Medien, die den Unterricht unterstützen und visualisieren.

Die Ausbildung von Lehrkräften für Gehörlosenschulen

Die Ausbildung von Lehrkräften für Gehörlosenschulen erfordert spezielle Qualifikationen im Bereich der “Hörgeschädigtenpädagogik”. Diese ist eine Fachrichtung der Sonderpädagogik und gleichzeitig ein Teilgebiet der Audiologie. Sie beschäftigt sich mit der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf aufgrund von Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit aufweisen.

Die “Hörgeschädigtenpädagogik” wird an deutschen Universitäten als eigenständiges Forschungs- und Lehrfach angeboten. Das Fach ist an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der Universität Hamburg und der Universität zu Köln vertreten.

Lehrkräfte an Gehörlosenschulen benötigen neben ihrem pädagogischen Fachwissen auch Kenntnisse in der Deutschen Gebärdensprache. Für hörende Menschen, die Gebärdensprache lernen möchten, gibt es zahlreiche Gebärdensprachkurse, die von verschiedenen Institutionen angeboten werden, beispielsweise vom Gehörlosenverbänden oder Volkshochschulen, aber auch von privaten Firmen oder Einzelpersonen.

Die Interessenvertretung Gehörloser und die Bedeutung von Gehörlosenschulen

Der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. (DGB) ist eine wichtige Interessenvertretung der auf 80.000 bis 100.000 Personen geschätzten Gruppe der deutschen Gehörlosen und anderer Hörbehinderter. Er engagiert sich gezielt auch für die Interessen von Familien mit gehörlosen bzw. hochgradig hörbehinderten Kindern und setzt sich für eine angemessene Bildung dieser Kinder ein.

Mit der gesetzlichen Anerkennung der Gebärdensprache durch das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (2001) und das Behindertengleichstellungsgesetz (2002) wurde ein wichtiges Ziel des DGB erreicht. Diese Anerkennung war ein entscheidender Schritt für die Stärkung der Rechte gehörloser Menschen und hat auch Auswirkungen auf die pädagogischen Konzepte in Gehörlosenschulen.

Die Familie der deutschen Gebärdensprachen und ihre Rolle in Gehörlosenschulen

Die Familie der deutschen Gebärdensprachen ist eine kleine Gebärdensprachfamilie, zu der nach der Klassifikation von Henri Wittmann aus dem Jahr 1991 die Deutsche Gebärdensprache, die Polnische Gebärdensprache und die Israelische Gebärdensprache gehören. Diese Sprachfamilie spielt eine wichtige Rolle im Unterricht an Gehörlosenschulen, da sie die Grundlage für die Kommunikation bildet.

Es ist interessant zu wissen, dass die Gebärdensprachen in Österreich (ÖGS) und in der Deutschschweiz (DSGS) zur Familie der französischen Gebärdensprachen gehören und nicht mit der DGS verwandt sind. Dies zeigt die Vielfalt und Eigenständigkeit von Gebärdensprachen, die sich unabhängig von den Lautsprachen ihrer Umgebung entwickelt haben.

In Gehörlosenschulen wird diese sprachliche Vielfalt berücksichtigt, indem die jeweils regional gebräuchliche Gebärdensprache unterrichtet wird. Dies fördert nicht nur die Kommunikationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, sondern trägt auch zum Erhalt und zur Weitergabe des kulturellen Erbes der Gehörlosengemeinschaft bei.

Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung von Lehr- und Lernmethoden, technischen Hilfsmitteln und inklusiven Ansätzen verändern sich auch die Gehörlosenschulen stetig. Sie bleiben jedoch ein wichtiger Ort, an dem gehörlose und schwerhörige Kinder eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Bildung erhalten und ihre Identität als Teil der Gehörlosengemeinschaft entwickeln können.

Von A bis Z: Begriffe rund um Hörbehinderung und Gebärdensprachen

Hier findest du Erklärungen zu wichtigen Begriffen aus den Bereichen Hörbehinderung und Gebärdensprachen. Unser Ziel ist es, dir einen einfachen Zugang zu diesem Themenfeld zu ermöglichen und Fachbegriffe verständlich zu erläutern.

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